Als sich das Jahr dem Ende neigte, kam mit dem November die dunkle Jahreszeit, die auch heute noch vielen Menschen auf die Seele drückt. Nicht so erging es uns Kindern und Jugendlichen. Wir verbrachten, soweit es das Wetter zuließ, viel Zeit im Freien. Doch mit zunehmender Kälte und früher hereinbrechender Dunkelheit gingen auch wir mehr und mehr ins Haus.
An Ideen für sinnvolle Beschäftigungen fehlte es uns nicht. Da gab es genügend Abwechslung. Wenn Oma zu Besuch war, las sie uns vor – bei Kerzenschein und Limonade. Sie verstand es, uns zu verzaubern. Andächtig lauschten wir. Sehr beliebt waren auch die Spieleabende, meist am Samstagabend im Kreise der Familie und unserer Freunde. Wir Geschwister durften immer eine Freundin oder einen Freund dazu einladen. Vorher hatten die Eltern zwei von uns Kindern den Auftrag erteilt, zur „Bude“ zu gehen und Naschwerk zu kaufen. Wir bekamen je 50 Pfennig, insgesamt also eine Mark, und alle konnten ihre „Bestellung“ aufgeben: für Gummibärchen, Lakritz-Schnecken, Nappo, Prickel Pit, Kaugummis und vieles mehr. Einige dieser Süßigkeiten gibt es jetzt immer noch. Wir kannten die Preise und es gab im Vergleich zu heute erstaunlich viel für das Geld. Mutter hatte zudem für Getränke gesorgt. Wir Kinder durften zwischen zwei Sorten Limonade auswählen: Zitrone oder Orange. Die Erwachsenen bekamen eine Tasse Tee oder auch ein Glas Wein.
Schließlich saßen wir alle um den großen Tisch herum und das Spiel begann. Meistens Poch (dieses Spiel kennen vermutlich nur noch Wenige) oder in späteren Jahren auch Monopoly - beides Spiele, die sich auch für eine große Runde eigneten. Es ging hoch her mit viel Spaß und Gelächter, aber auch mal mit Wut, wenn Mitspielende die besten Straßen kauften und andere sich mit schlechten Käufen begnügen mussten. Und so ganz nebenbei lernten wir es, mit Anstand zu verlieren.
Wir mochten kein Ende finden und häufig wurde es recht spät. Das machte nichts, schließlich konnten wir ja am Sonntag ausschlafen. So ab Mitte November mussten wir uns dann auch überlegen, was wir für unsere Eltern als Weihnachtsgeschenke basteln wollten. Es war üblich, dass wir etwas Selbstgemachtes schenkten. Die Schwestern strickten Socken, häkelnden Topflappen oder bestickten Servietten. Meine ältere Schwester war künstlerisch sehr begabt und bemalte verschiedenes Porzellan. Meine Profession waren hauptsächlich Laubsägearbeiten als Christbaumschmuck. Irgendwann gab es davon allerdings genug, und ich musste mir etwas Neues einfallen lassen.
In den 50er-Jahren kamen sogenannte Nierentische in Mode. In Zeitschriften entdeckt, nahm ich diese als Vorbild und entschied mich für einen Eigenbau. Es schien mit eine gute Idee als Weihnachtsgeschenk und ich wollte eine kleine, als Blumenbank geeignete Ausführung bauen. Mit großem Elan stürzte ich mich in die Arbeit. Schon bald hatte ich das Gefühl, mir möglicherweise zu viel vorgenommen zu haben. Aber mein Ehrgeiz war entfacht und ich legte all mein handwerkliches Geschick in die Sache. Den Bau meines Prototyps begann ich mit der Tischplatte. Diese fertigte ich aus einer etwas dickeren Sperrholzplatte. Die Oberfläche wollte ich später mit Mosaiksteinchen belegen. An dieser Idee wäre ich jedoch fast gescheitert, denn es gab damals schon eine große Auswahl in den entsprechenden Geschäften, aber die Preise dafür überstiegen bei weitem mein Budget.
Nach langem Suchen fand ich schließlich eine nicht ganz so edle, für mich aber bezahlbare Kategorie. Schwierig waren die Kanten, denn die Nierenform bestand nur aus Kurven. Die Steinchen mussten rund geschliffen werden, sodass die Tischplatte einen glatten Rand bekam und mit einem Umleimer versehen werden konnte. Die Oberfläche verfugte ich mit handelsüblichem Material, wie es auch Fliesenleger verwenden. Die Beine erforderten ganz besonderes Geschick, denn sie sollten sich nach unten hin verjüngen. Ich hatte die Möglichkeit, eine Drehbank dazu zu benutzen.
Obwohl diese Maschine eigentlich für die Metallbearbeitung vorgesehen war, zeigte es sich, dass sie sich durchaus auch zum Drechseln von Holz eignete. Mein Werkstück war am Ende wahrhaftig gut gelungen: Das kleine Tischchen sah dekorativ aus unter dem Weihnachtsbaum und Mutter zeigte sich begeistert. Außerdem konnte ich diesmal erfolgreich mit meinen Schwestern konkurrieren. Das kleine, von Hand gefertigte Möbelstück brachte nach Weihnachten noch eine unerwartete Überraschung: Es war üblich, dass Mutter ihre Freundinnen immer am Anfang des neuen Jahres zu einem Damen-Kaffee einlud. Bei dieser Gelegenheit präsentierte sie mit Stolz auch immer die Weihnachtsgeschenke, die sie von ihren Kindern erhalten hatte. Meine kleine, nierenförmige Blumenbank wurde mit Begeisterung wahrgenommen und fand großes Interesse bei den Freundinnen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Denn es folgten zahlreiche Anfragen der Damen, die mich baten, ihnen doch auch ein so hübsches Tischchen anzufertigen. Ich lehnte jedoch höflich mit der Begründung ab, dass die Schule wieder begonnen habe und diese meine volle Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch nehmen würde. Erwähnt hatte ich dabei nicht, dass ich es vorzog, mich dem Bau meiner heißgeliebten Schiffsmodelle zu widmen.
Alles in allem bot die dunkle Jahreszeit immer Raum für Kreativität und gab uns Kindern die Gelegenheit, unsere eigenen Fähigkei- ten zu entdecken und auszuprägen.
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IN DER KOLUMNE RÜCKBLICK BERICHTET GASTAUTOR PETER BORGWARD REGELMÄSSIG ÜBER PERSÖNLICHE ERLEBNISSE.
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