Das Lieblingshandwerk von Angela Ziemer.
Modemacherin zu sein ist mein Lieblingsberuf, das Schneiderhandwerk meine ganze Leidenschaft, und jeden Tag im Atelier frage ich mich, wann ich endlich anfangen muss zu arbeiten. Viele Menschen sind schon am Sonntag vom zu erwartenden Montag genervt. Ich dagegen weiß nicht einmal, welchen Wochentag wir haben oder schaue regelmäßig auf die Uhr.“
Das Ziel der Ausbildung zum Maßschneider wird lapidar mit den Worten „Herstellen eines Großstückes“ beschrieben. Wie komplex und facettenreich diese nüchterne Beschreibung in Wahrheit ist, erlebt man tatsächlich erst im Laufe des Herstellungs-Prozesses. Für Angela Ziemer, Maßschneiderin in Kiel, geht dieser Beruf noch viel tiefer. Dass sie für ihre Arbeit brennt steht außer Zweifel. „Dieses wunderbare Phänomen, sich von Texturen, Oberflächen, Farben und Haptik entführen zu lassen und darin zu schwelgen, eine Vorfreude zu erzeugen und eine intensivere Auseinandersetzung mit dem entstehenden Kleidungsstück zu erleben, ist niemals mit dem „relativ“ schnellen Kauf einer Konfektionsware zu vergleichen.“
Foto: Bevis PHOTOGRAPHY
Im Atelier von Angela Ziemer entstehen exklusive Einzelstücke, die auf nur eine Person abgestimmt sind und ihre eigene Persönlichkeit in sich tragen. Die Fertigung eines individuellen Kleidungsstücks ist komplex und facettenreich. Die größte Herausforderung dabei ist wohl die grundlegende Tatsache, dass dieses Unikat, mit dem die Kundin eines Tages das Atelier verlassen wird, bei ihrem ersten Besuch noch gar nicht existiert. In erster Linie geht es also darum, für die Kundin genau das Kleidungsstück zu fertigen, das sie bereits in ihrem Kopf trägt. „Meine Aufgabe ist es, den Stil der Frau zu erspüren und genau die Passform zu der vor mir stehenden Figur zu erfassen“, so erklärt Angela Ziemer die Anforderungen, die ihren Arbeitsalltag so spannend machen.
Im Gespräch finden dann die Vorstellungen der Kundinnen und die Erfahrung der Maßschneiderin zusammen. Angela Ziemers hohes Maß an Feingefühl, an Farb- und Formverständnis und an Begeisterung für das Arbeiten mit Textilien ermöglicht es, die Wünsche und Ideen der Kundinnen sichtbar werden zu lassen – zunächst als Entwurfsskizze auf dem Papier. „Anhand der Vorlieben zu bestimmten Schnitten, Dekolletéformen, Ärmel- und Beinlängen sowie Farben zeichnen wir mögliche Optionen und erkennen dabei sukzessive, in welche Richtung sich der Entwurf entwickelt.“
Nach der Skizze erfolgt die praktische Arbeit am Material. Für das Styling werden die Stoffe ausgesucht, immer unter der Berücksichtigung des Falles, der Weichheit, der Griffigkeit, des Standes, der Farbe, der Geräusche (Seide knistert!), der Knitteranfälligkeit und natürlich auch nach dem späteren Einsatzbereich (Business-Kleidung, Festtagsgarderobe oder Casual Clothing). Dabei kann die Kundin im Atelier von Angela Ziemer auf eine Vielzahl an haptisch und optisch begeisternden Stoffen zurückgreifen. Und sollte hier kein geeigneter Stoff dabei sein, dann recherchiert man gemeinsam in den Katalogen und Angeboten der ausgesuchten Stofflieferanten.
Sind die richtigen Stoffe erst einmal gefunden, beginnen die eigentlichen Arbeitsgänge zur Herstellung des Kleidungsstückes, wie Zuschneiden, Bügeln, Nähen und Drapieren, die immerhin den Großteil der täglichen Routine einer Maßschneiderin ausmachen. „Mit jeder genähten Naht kommen wir dem Ergebnis näher, ein zauberhaftes Gefühl aus einem Stück Stoff schließlich ein dreidimensionales Gebilde zu erstellen. Von einer planliegenden Variante zu einem schmückenden neuen Outfit, von einer Bleistiftskizze zu einem rauschenden Ballkleid.“ Jeder Tag fordert Angela Ziemer mit den unterschiedlichsten Entscheidungen. Denn sie weiß, um die Wichtigkeit der gewählten Kleinzutaten wie beispielsweise der Garnfarbe und Garnstärke, der Wahl zwischen Vlieselineeinlage oder Rosshaar, ob Frontfixierung oder lose Einlage, Knöpfe oder Reißverschluss, Spitze oder Schmucktechniken.
„Im Gegensatz zur Konfektion fertigen wir mit deutlich großzügigeren Nahtzugaben, sodass wir auch im Laufe der Jahre mit dem Wunschkomfort der Kundin einhergehen können. Gegebenenfalls agieren wir in dem Bereich auch mit einer deutlich komfortableren Schnittgestaltung, um auf diese Veränderungen einwirken zu können. Uns ist es ein großes Anliegen, beste Qualitäten auf höchstem Niveau zu verarbeiten, damit das neue Lieblingsstück jahrelang bestehen kann“, so die Maßschneiderin. Vielfach sind die Entwürfe zeitgerecht, aber nicht immer hochmodisch, damit eine langjährige Trageleidenschaft garantiert werden kann. Die Kleidungsstücke bestechen auch aufgrund der tadellosen Passform und lassen sich auf den ersten Blick bereits dadurch von der Konfektion unterscheiden. „Bei näherer Betrachtung erlebt man den Stoff haptisch ganz anders, ebenso die liebevollen kleinen Details, die die Einzigartigkeit unserer handwerklichen Arbeit unterstreichen.“
Was Angela Ziemers Arbeit dabei immer zugrunde liegt, ist der enge Austausch mit ihrer Kundin. „Dieser enge Dialog schafft eine besondere persönliche Nähe“, erklärt die Maßschneiderin das intensive Wechselspiel. „In der Regel arbeiten wir vier bis sechs Wochen an einem Projekt. In dieser Zeit sehen wir einander meist dreimal. Und es ist immer wieder aufregend und bezaubernd, die Freude und Erwartung der Kundinnen zu sehen: das Wachsen der teilweise eigenen Ideen, die unterschiedlichen Stufen der Verarbeitung und letztendlich das fertige Produkt, passformgenau und einzigartig.“
Angetrieben von ihrer Leidenschaft glaubt Angela Ziemer an Nachhaltigkeit – sowohl im Bezug auf die Lebensdauer von Kleidung, als auch im Hinblick auf die Qualität ihrer Arbeit. Dass Kleidungstücken oder „alten Schätzchen“, wie die Modemacherin liebevoll sagt, in ihrem Atelier wieder neue Begeisterung eingehaucht werden kann, indem ihre Passform optimiert oder Kleinigkeiten verändert werden, ist für sie eine Herzensangelegenheit. „Nachhaltigkeit, Komfort und Sicherheit sind für uns wichtige Begriffe. Es geht nicht um die schnelle Herstellung von Kleidung, sondern um eine lange fachliche Begleitung und das Vermitteln von Wohlgefühl.“
Und auch in ihrem Anspruch an sich und die Qualität ihrer Arbeit, agiert Angela Ziemer stets zukunftsorientiert. Um „immer auch ein bisschen über den Tellerrand zu schauen und sich von anderen Könnern inspirieren zu lassen“, ist sie wenigstens zweimal im Jahr auf Stoffmessen und ebenso häufig auf Modemessen in Florenz, München, London und Berlin unterwegs. Dafür nimmt sie im Wettbewerbsvergleich auch an diversen Veranstaltungen vom Bundesverband teil und besucht Seminare, Workshops und Kongresse, um beispielsweise im Hinblick auf Veränderungen der Schnittgestaltung oder neuer technischer Stoffe auf dem neuesten Kenntnisstand zu bleiben, aber auch um bestehende Kontakte zu vertiefen und zum interaktiven Austausch unter Kollegen anzuregen.
Den Moment, in dem ihre Kundin bei der finalen Anprobe am Körper spürt und im Spiegel sieht, was bis dahin nur eine Idee in ihrem Kopf war, beschreibt Angela Ziemer mit besonderer Wertschätzung: „Das Leuchten in den Augen der Kundin, die gemeinsame Begeisterung, das fröhliche Gekicher und die Herzlichkeit bei der Übergabe, die ja schon während der Zusammenarbeit gewachsen ist – diese Begegnungen geben mir in meinem Beruf ein Lebenselixier, das mich täglich glücklich macht.“
Angela Ziemer • Modemacherin Grasweg 8 • 24118 Kiel www.angela-ziemer.de
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